Ein ?lterer Mann und ein junger liefen auf der anderen Seite des Raums entlang der Bücherregale auf eine alte verschlossene Tür zu, die Nevin gerade hatte aufknacken wollen, als die beiden aufgetaucht waren. Die Gelehrten traten ein und sperrten die Tür hinter sich zu. Im Keller des Regierungsgeb?ude, hatte er sich in den fensterlosen Raum schon mehrere N?chte lang durchgelesen. Hier lagerten die wichtigsten Schriften und Bücher der Regierung in H?hental. Bis jetzt hatte er keinen Erfolg gehabt. Das, was er suchte, musste also hinter der alten Tür sein.
Nevin wartete. Und wartete. Doch die alten M?nner kamen nicht heraus. Er biss die Z?hne zusammen. Bald musste er gehen. Sonst würden die anderen Stallburschen aufwachen und ihn nicht auf seiner Liege finden. Und morgen war er für eine Trauerfeier eingeteilt. Seufzend schob er den alten Vorhang zur Seite. Er schlich zur Ausgangstür, als das Schloss der alten Tür aufschnappte. Nevin riss den Kopf herum. Die Tür ging langsam und knarrend auf.
Lautlos sprang Nevin nach links, um sich hinter ein Regal zu verstecken. Mit seinen H?nden drückte er gegen die Bisswunde an seinem linken Bein und lie? etwas von dem brennenden Fluch durch seinen K?rper laufen. Aus seinen nackten Zehen und Fingern kamen Krallen heraus. W?rme durchstr?mte seinen K?rper und nahm etwas von seinem eigenen Gewicht. Dann schlich er zur Wand, krallte sich dort fest und kletterte hoch. Er hing kopfüber von der Decke, als die Gelehrten mit ihren roten Roben auf die Ausgangstür zu schlenderten.
?Hast du die alten Rollen sicher verwahrt? Das waren die wichtigsten?, fragte einer der Gelehrten mit rauer Stimme.
?Natürlich. Obwohl ich immer noch der Meinung bin, dass wir sie verbrennen sollten. Es ist verbotenes Wissen. Wir k?nnen es nicht riskieren, dass sie von zu vielen gelesen werden. Was, wenn einer der anderen Gelehrten es sich in den Kopf setzt, dass wir wieder einen K?nig brauchen??
Nevin horchte aufmerksam, w?hrend er vorsichtig seine Fü?e auf das Regal setzte, das gegenüber der Ausgangstür stand.
?Das glaubst du doch selbst nicht. Das Kaiserreich ist ein Chaos. Alle in H?hental wissen, dass Monarchien nur Machtgier und Selbstsucht hervorbringen. Seit die Landesw?chter regieren, haben sich die Bewohner eifrig an die Tugenden unserer Lehren festgehalten. Und die konnten wir, Dank unserer dunklen Vergangenheit, festlegen. Deswegen müssen die Schriften erhalten bleiben. Als Warnung für die zukünftigen Bewohner H?hentals.?
Sie traten aus der Bibliothek heraus. Nevin starrte zur alten Tür. Er biss sich auf die Lippen. Die Versuchung war gro?. Doch seine Zeit war abgelaufen. Bald würde die D?mmerung kommen. Er musste zurück. Leise kletterte er das Regal herunter. Dabei rüttelte das Regal leicht und ein dickes Buch fiel aus der obersten Ablage heraus. Es landete mit einem lauten Knall auf dem Boden.
?Verdammt.? Er sprang mit einem riesigen Satz wieder hoch zur Decke, krallte sich daran fest und krabbelte vor zur Ausgangstür. Im selben Moment wurde sie aufgerissen und die zwei Gelehrten kamen atemlos herein.
?Was war das? Ist hier jemand??, rief eine raue Stimme.
Die beiden M?nner hielten ihre Kerzen hoch und suchten die Regale ab. Die Ausgangstür stand weit offen. Kopfüber kletterte Nevin hindurch. Als er den oberen Türrahmen passiert hatte, zog er seine Krallen zurück und landete lautlos auf den kalten Steinboden. Er lief ein paar Schritte weiter. Bald würde er wieder drau?en sein.
?Das war ?u?erst seltsam", murmelte einer der Gelehrten hinter ihm.
Nevin hielt den Atem an.
?Moment mal, wer bist du?", rief der zweite Gelehrte.
Nevin schoss lautlos durch den Gang zur Treppe.
?Halt! Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben! Wachen!"
Er borgte sich die Drachenkraft, die in seiner Narbe schlummerte und lief noch schneller. Bald hatte er die Treppen hinter sich, riss die Tür auf und rannte im Schutz der engen Gassen der Hauptstadt davon. Die Sonne begann aufzugehen. Seine fünfte Nacht ohne Schlaf.
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Das Pferd lie? immer wieder seinen Kopf sinken, die Augen auf das Gras unter seinen Hufen gerichtet. Doch Nevin drückte seine Hand eisern um das Seil, mit dem er den Wallach festhielt. Solange die Trauerfeier anhielt, musste der Wallach den Kopf hochhalten. W?hrenddessen k?mpfte Nevin damit seine Augen nicht zu fielen. Selbst mit seinen Drachenkr?ften, würden die schlaflosen N?chte bald ihren Tribut fordern. Seine Lider und sein Kopf zogen sich wie Magnete nach unten. Seine Schultern spannten und schmerzten, doch er hielt sie so gerade wie m?glich. Nevin versuchte sich abzulenken.
Er stand bei einer gro?en Menschengruppe. Darunter waren ein paar W?chter, ein Landesmeister und eine Familienansammlung, die vor kurzem eine Tochter verloren hatte. Der Wallach, den er hielt, war mit ihr aufgewachsen. Und da ihre Eltern berühmte Pferdezüchter waren, war es für sie wichtig, dass das Tier bei der Trauerfeier dabei war.
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Im Pferdehof des W?chterdorfs, wo Nevin arbeitete, hatte sich niemand freiwillig für diese Arbeit gemeldet. Also hatte er diese Aufgabe übernommen. Nicht weil er die anderen Stallburschen entlasten wollte, sondern weil Nevin etwas herausfinden wollte.
Der Inhalt der Trauerrede glitt an seinen Ohren vorbei. Er kannte sie schon. Sie wurde mehrere Male im Monat gehalten. Er achtete auf andere Dinge. Zum Beispiel den Ton der Stimme des Landesw?chters. Sie klang ernst, doch fehlte es ihr an Traurigkeit. Seine Schultern waren nach hinten gezogen, sein Rücken gerade. Erhaben. Ein starker Kontrast zu den Eltern des M?dchens und den jüngeren Geschwistern. Sie standen mit gesenkten K?pfen da. Die Augen ger?tet und angeschwollen. Die Lippen zitterten, die Schultern hingen herab. Nur zwei bildeten die Ausnahme.
Er beobachtete den Bruder der verstorbenen. Jemand hatte erw?hnt, dass es ihr Zwilling war. Seine braunen Locken verdeckten seine Augen, doch seine Wangen waren trocken und seine Lippen eng aufeinander gepresst. Er trug seine W?chteruniform, aber wahrscheinlich nicht mehr für lange. Daneben stand eine weitere W?chterin in Ausbildung. Ein blondes M?dchen, mit kurzen Haaren und mit hellblauen Augen. Sie starrte mit gerunzelter Stirn auf den Sarg. Nevin hatte die starke Vermutung, dass er leer war.
Die blonde W?chterin wandte sich zu dem Bruder und formte lautlos ?Halte durch?, mit ihren Lippen. Der Bruder ballte seine H?nde zu zitternden F?usten.
Nevin war sich fast sicher, dass seine Schwester noch am Leben war. Und ein Drache. Nevin unterdrückte den Drang zu schmunzeln.
Zwei ehemalige W?chterlehrlinge. Und wie die anderen Stallburschen ihm mitgeteilt hatten, geh?rten sie auch noch der Elitegruppe an. Es w?re nicht schlecht, sie für die Singbucht zu gewinnen. Wenn er es schaffen konnte, sie von den Klauen der Landesw?chter zu befreien, die von nun an ihr Leben bedrohen würden.
Die Trauerfeier war vorbei. Alle W?chter verlie?en den Friedhof. Der Bruder umarmte seine Eltern, das blonde M?dchen die jüngeren Geschwister. Der Vater l?ste sich von der Gruppe und trat auf Nevin zu.
?Danke, dass du ihn für uns gehalten hast.?
?Gerne.? Nevin l?chelte leise und gab ihm den Strick des Wallachs. ?Mein herzliches Beileid.? Nicht für den Tod der Tochter, dachte Nevin für sich. Sondern dafür, dass sie von ihrer Familie getrennt worden war und nun verwirrt und alleine als Drache drau?en im Kaiserreich überleben musste. Nevin beugte sich und tat so, als müsste er seine Stiefel zu schnüren.
?K?nnt ihr uns noch zum Pferdehof begleiten? Dort steht unsere Kutsche?, murmelte die Mutter traurig. Das blonde M?dchen schüttelte den Kopf.
?Die Landesw?chter haben uns zu einer Versammlung berufen?, erkl?rte sie. Der Bruder schürzte ver?chtlich die Lippen.
?Natürlich. Selbstverst?ndlich?, murmelten die Eltern und verabschiedeten sich.
Nevin wandte sich ab und trottete in Richtung des Pferdehofs. Er musste die beiden bald nach der Besprechung abfangen. Ehe es zu sp?t war. Nevin ging durch das Haupttor des Hofes durch, da lief ihm der Stallmeister entgegen.
?Nevin, kannst du vier frische Pferde zum Verwaltungsgeb?ude bringen? Vier Landesw?chter brauchen sie für ihre Kutschen?, fragte einer der ?lteren Pferdepfleger.
?Gerne?, sagte Nevin mit einem L?cheln.
Der Pferdepfleger lachte. ?Sieht man dich jemals ohne ein L?cheln auf den Lippen??
?Es ist das Beste, was ich tragen kann.?
?Kein Wunder, dass man dich überall nur noch die Grinsebacke nennt. Aber lass dich nicht davon nerven. Es ist freundlich gemeint.?
Nevin pfiff vor sich hin, w?hrend er zu den Koppeln lief. Sein L?cheln war seine Hauptwaffe. Bis jetzt hatte es noch nie seine Wirkung verfehlt. Es hatte ihn seit er klein war begleitet und ihm durch alle Lebenslagen geholfen. Er l?chelte, um sich selbst Hoffnung zu machen und um anderen Menschen zu zeigen, dass er nicht ihr Feind war. Es war oft das einzige, was er tun konnte, um nicht v?llig den Verstand durch seine Lebensumst?nde zu verlieren.
Nevin holte zwei kr?ftige Kaltblutstuten von der Koppel. Ruhige und ausgezeichnete Kutschpferde. Er beeilte sich, denn wenn er Glück hatte, konnte er die beiden Lehrlinge abpassen, wenn sie fertig im Hauptgeb?ude waren.
Es war noch kaum ein Monat vergangen seitdem er in H?hental war. Bis jetzt schien niemand zu ahnen, dass er eigentlich aus Rovisland kam. Er hatte sich bereits unter allen Stallburschen bekannt gemacht. Das W?chterdorf geh?rte eigentlich zur Hauptstadt H?hentals. Es lag gleich daneben, doch wurde getrennt von einer kleinen Hügelkette. Und dadurch, dass nur die W?chter mit ihren Familien hier lebten, die für die südwestliche Grenze verantwortlich waren. Nevin war angeblich der Neffe eines W?chters. So hatte er es geschafft, sich in das W?chterdorf einzuschleusen.
Die vier Stuten folgten ihm brav über den sandigen Weg der aus dem Pferdehof hinausführte. Er führte durch ein W?ldchen, dahinter kam gleich das gro?e Hauptgeb?ude der W?chter in Sicht. Gleich dahinter stand der Hügel, der die Hauptstadt H?hentals verbarg. Er ging auf den überdeckten Hof links neben dem gelben Geb?ude, wo die Kutschen parkten.
?Hier sind vier frische Pferde für die Kutschen der Landesw?chter?, sagte Nevin zum Burschen der am Tor stand. Dieser sah Nevin kurz an, dann riss er die Augen auf.
?Bist du Nevin? Der Neue im Pferdehof? Die Grinsebacke??, fragte er mit einem missmutigen Blick.
Nevin lachte. ?Ja, genau der bin ich.?
Die schwarzen Augenbrauen des Burschen zogen sich wütend zusammen. ?Meine Schwester ist eine W?chterin in Ausbildung und hat dich gesehen. Sie hat ein Auge auf dich geworfen.?
?Ah, kannst du ihr sagen, dass ich bereits verlobt bin?? Nevin hielt die Hand mit dem goldenen Ring hoch. Sofort entspannte sich das Gesicht des Burschen wieder und gab Nevin ein kleines L?cheln.
?Verlobt? Wer ist denn die Glückliche??
?Sie ist leider nicht hier der Hauptstadt.? Nevin seufzte leise. Der Bursche stellte keine Fragen mehr und half ihm dabei, die frischen Pferde vor die Kutschen zu spannen.
?Die anderen vier k?nnen sich hier ausruhen. Du brauchst sie nicht zurück zum Hof zu bringen?, sagte der Bursche.
Nevin verabschiedete sich. Und biss sich in die Wangen. Es war nicht leicht für ihn, die arglosen Bewohner st?ndig so zu t?uschen. Hier hielten sich fast alle treu an die Gesetzte und Prinzipien die ihnen von klein auf eingetrichtert wurden. H?hental hielt so streng an seine hochmoralischen Gesetze, dass selbst Lügen strengen Strafen unterstanden. Doch seine Verlobung war ausnahmsweise keine Lüge. Aus der Sicht seines Vaters war er immer noch verlobt. Die Frage war nur, ob jemals eine Ehe aus dieser Verlobung zustande kommen würde.